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AutorenbildAlinaB77

Waldbaden

Aktualisiert: 13. Sept. 2022

Ich überlege, während ich 45 Euro an eine gewisse Claudia Peters zertifizierte "Waldbademeisterin" überweise, ob es unangemessen ist, mit einem Audi- Diesel- Kombi zum "Waldbaden" zu fahren. Die anderen Kurteilnehmer kommen bestimmt mit der S- Bahn, mit dem Rad oder zu Fuß. So wie es sich gehört. Wenn ich allerdings mit der S- Bahn fahre, muss ich zehn Minuten bis zum Treffpunkt durch den Wald laufen. Alleine. Als Frau. Nicht gut. Oder ich fahre die kurze Strecke von der S- Bahn zum Treffpunkt mit dem Bus, auf den ich höchstwahrscheinlich stundenlang warten muss, um am Ende zu spät zu kommen. Ich könnte auch mit dem Fahrrad und der S- Bahn fahren. Oder nur mit dem Fahrrad? Mal wieder kann ich mich nicht entscheiden, was nicht ungewöhnlich ist in Anbetracht meines desolaten Zustandes.

Am nächsten Tag sitze ich in der S- Bahn Richtung Erkner. Ich möchte ganz gerne für ein paar Stunden die Inflation, den internationalen Terrorismus, den Klimawandel und die weltweite wirtschaftliche Situation, meine komplizierte Beziehung, mein berufliches feststecken und den Ukraine- Krieg vergessen- und ganz im Allgemeinen meine Nerven beruhigen. Realitätsflucht nennt man das, glaube ich. Sicherheitshalber habe ich ein Stückchen Pilzschokolade in die Hose gesteckt, falls das Unternehmen zu scheitern droht. Während der Zug von Station zu Station rast beobachte ich zwei Party- People und lausche ihrem Gespräch: "Yesterday, Secret Party, Secret password, awesome Party, totally Berlin experience, very unique, very cool, amazing!"Ich überlege, ob die beiden Flitzpiepen gestern Nacht auch vor meiner Haustür standen und vor meine Tür gekotzt haben.

Mir fallen immer wieder die Augen zu, weil ich erst um 4.10 Uhr zwei Beamte vor der Wohnungstür stehen hatte ( der eine recht gut aussehend), um eine Anzeige wegen Ruhestörung aufzugeben. "Junge Frau, wir sind hier eigentlich nicht zuständig. Da müssen sie sich an das Ordnungsamt wenden." "Die haben aber keinen Nachtdienst." "Die schieben immer alles auf uns, als hätten wir nichts besseres zu tun, die verdammten Ordnungsamt- Fuzzis". "Das tut mir leid, aber ich kann die ganze Woche nicht schlafen, weil die Bar unter unserer Wohnung inzwischen ein Club ist." Ja, da müssen sie ihren Vermieter informieren." "An den kann ich mich aber nicht wenden, weil wir nur als Untermieter im Vertrag stehen und jeder Zeit rausgeschmissen werden können. Mit zwei Kindern. In der heutigen Lage." Und so weiter. Unter einem schwachen, flackernden Flurlicht auf einem dreckigen, klebrigen Boden, im letzten unrasierten Haus dieser Stadt drückt einer der Beamte immer wieder vergebens auf den Lichtschalter, weil er nicht einsehen will, dass das Licht nicht geht, während ich mit flatternden Nerven versuche zu erklären, wie wichtig diese Anzeige für mich ist, weil ich den Bass, die schreienden Leute, die zerschlagenen Flaschen im Hausflug, die Kokstüten und den Menschenkot vor der Tür nicht mehr aushalte. Und dann stehe ich zitternd und heulend vor den Beamten, die nicht wissen was sie machen sollen. Schließlich zückt der Gutaussehende der beiden Officers seinen Kuli und schreibt die Anzeige. Um fünf Uhr morgens bin ich eingeschlafen, um bereits um 6.30 Uhr wieder aufzustehen. Der erste Schritt vor die Haustür landet, wie kann es anders sein, direkt in Kotze.

"Ich muss aus der Stadt raus. Ich will raus!!!", schreie ich wie seinerzeit Purple Schulz einmal quer durch das Abteil. Alle Köpfe in der S- Bahn drehen sich zu mir um. "Entschuldigung", sage ich kleinlaut, bevor ich in meinem Telefon versinke. Zum Glück bin ich auf dem Weg zum Waldbaden, denke ich. Ich habe eine Jeans angezogen und feste Schuhe wegen der Zecken. Außerdem bin ich mit einem rosa Eastpack- Rucksack, einer Körnerecke und einer Trinkflasche, die ich meinem Teenagersohn geklaut habe, ausgerüstet. Eigentlich graut es mir davor, mit wildfremden Personen im Wald unterwegs zu sein, seltsame Rituale zu praktizieren und im schlimmsten Fall in Zweiergruppen aufgeteilt zu werden. Aber jetzt habe ich schon überwiesen, und so kann es ja auch nicht weitergehen.

Und tatsächlich, als ich nach 40 Minuten Fahrt aus der S- Bahn steige, nehme ich direkt einen frischen Waldgeruch wahr und höre Vögel zwitschern. Ich wundere mich über einen Käfer, der auf mir gelandet ist und den ich noch nie zuvor gesehen habe. Da kommt bereits Claudia mit festen Schritten und in Crocs auf mich zugelaufen, rote Haare, Ökokleidung, ein strahlendes und leicht verrutschtes Lächeln auf den Lippen. Kurz darauf parkt ein kleiner roter Kia Picanto neben uns, und eine junge Frau mit beidem Minilederrucksack, Brille und zusammengepressten Mund steigt aus. Wenig später trudelt Sandra ein, schlank, groß, schwarz gefärbte Haare, mit akkuratem Pony und geschminktem Gesicht, aus Friedrichshain. Schließlich schwebt Nele, Heilpraktikerin mit Poncho und barfuß auf uns zu. Dann stehen wir auch schon leicht verkrampft in einem kleinen Kreis auf einer Wiese direkt neben dem Wald und stellen uns vor. Claudia reicht Zettel herum, auf denen steht, warum Waldbaden so gut ist. "Blutdrucksenkend" "Schlafprobleme verschwinden". So sollen "die Stresshormone verschwinden."Und: "Die Stimmung wird positiv beeinflusst, die Achtsamkeit geschult." Claudia schlägt vor, dass jede von uns ihren "Balastrucksack" einfach hier an Ort und Stelle stehen lässt und wir gleich in den Wald gehen. Ich verstehe nicht ganz, mache aber wie die anderen eine unbeholfene Pantomime, indem ich einen imaginären Rucksack auf den Boden stelle. Dann stolpere ich meine Bomberjacke vor die Brust schiebend und meine Socken extra hochziehend, wegen der Zecken, der Gruppe hinterher. Es dauert nicht lange, und ich laufe direkt in ein ekliges Spinnennetz hinein.

Ich kann nicht anders und muss an Baudelaires Worte denken; "Mein lieber Desnoyeers, Sie bitte mich um Verse für ihren kleinen Band, Verse über die Natur, nicht wahr? Über die Wälder, die großen Eichen, das Grüne, die Insekten, die Sonne vermutlich? Aber sie wissen doch, dass ich außerstande bin, über die Vegetabilien in Rührung zu geraten, dass meine Seele dieser sonderbaren neuen Religion widerstrebt." Die Natur, auch mir kommt sie wie jedem "geistigen" Menschen, zumindest jetzt, etwas "shocking" vor. "Ich werde niemals glauben, dass die Seele der Götter in den Pflanzen wohnt, und selbst wenn sie dort wohnen sollte, kümmerte mich das wenig, und ich würde meine eigene für ein sehr viel höheres Gut halten als jene der geheiligten Gemüse."

Das ist natürlich überhaupt nicht en vogue, so etwas heutzutage zu denken, aber mein Naturverhältnis ist ähnlich gestört wie meine Beziehung, denke ich, während mir ein Ast einer Kursteilnehmerin volle Kanne ins Gesicht schlägt. Mein Naturbegriff ist von einem Dualismus geprägt und pendelt zwischen Naturnutzung, ja -zerstörung und Naturschutz. Entweder sind wir jene, die die Natur zum Objekt machen und schonungslos ausbeuten. Oder aber wir vergöttern sie und sehen uns als Retter vor der Bestie Mensch, die sie auszurotten droht.

In beiden Fällen betrachten wir uns als Außenstehend, nicht als Teil der Natur. "Ihr müsst nicht auf dem Weg bleiben, lauft ruhig mal richtig in den Wald rein. Nehmt die Gerüche wahr, die Geräusche", sagt Waldbademeisterin Claudia mit extra sanfter Stimme. Vorsichtig schlage ich mich durchs Unterholz. Die Äste knacken unter meinen Füßen und ich tue so als wäre ich begeistert, und merke doch, wie bekloppt ich mir vorkomme und wie entfremdet ich der Natur bin. Ich denke darüber nach, dass wir beispielsweise von natürlichen Geburten außerhalb der Klinik reden oder von der Unnatürlichkeit des Impfen und dass wir Bäume auf Dächern wachsen lassen und dabei denken, wir handelten damit "naturnah". In Wahrheit haben wir keine Ahnung mehr, was Natur eigentlich ist. Also ich zumindest. Ich weiß nicht, wie sich das töten eines Tieres anfühlt, habe keine Hornhaut an den Händen vom Schuften auf dem Acker. Stattdessen lebe ich immer mehr von medialen Naturbildern. "Urban Gardening" auf Instagram. Die Waldbademeisterin tippt mich sachte an und fragt, ob alles in Ordnung ist. "Ja", sage ich. Als Nächstes sollen wir unsere Hände zu einem Fernrohr formen und Details unserer Umgebung beobachten. Ich she einen toten Borkenkäfer und Ameisen, die einen Baumstamm hochkrabbeln. Ich sehe die Sonne und die Baumwipfel, die sich leicht im Wind bewegen. Gerade meine ich, eine Art Beruhigung wahrzunehmen, wenn auch sehr subtil, da teilt uns Claudia in Paare ein. Horror.

Wir sollen uns gegenseitig in Kindersprache, also voller Erstaunen, etwas auf dem Waldboden Gefundenes beschreiben, gerne in einer Fantasiesprache. Oje, denke ich. Vielleicht ist das der richtige Moment, auf meine Pilzschokolade zurückzugreifen? Aber da steht Sandra schon neben mir und verdreht ihre geschminkten Augen. Ich habe eine Verbündete, thank god. Wir unterhalten uns über ihre Unentschiedenheit wegen eines Jobangebots. Ich sage: "Einfach machen." Sie nickt dankbar. Claudia schaut streng zu uns rüber. Dann nehmen wir Rinde in die Hand und riechen an ihr. Sandra und ich stellen fest, dass sie nach Erde und Sperma riecht. "Sperma riecht eklig", sagt Sandra. "Meistens", sage ich. "Was ist Waldbaden überhaupt?", fragt Sandra. "Waldbaden kommt aus Japan", sage ich, "und gehört zur allgemein anerkannten Gesundheitsvorsorge. Es bezeichnet die Medizin des Waldes und ist eine Einladung, in den Wald zu gehen, die Stille auf sich wirken zu lassen und die Unaufgeregtheit der Natur zu genießen. Bereits 1982 startete die japanische Forstbehörde eine Initiative, um das erhöhte Stressaufkommen der Bevölkerung zu senken und einen gesunden Lebensstil fördern. Es folgten eine Vielzahl medizinischer Studien und japanische Wissenschaftler bestätigten schnell, dass intensive Aufenthalte im Wald das Stresssystem des Menschen beruhigen, unser Immunsystem stärken und die kognitiven Fähigkeiten verbessern. In Japan zählt Waldbaden längst zur allgemeinen Gesundheitsvorsorge und ist auch in Deutschland angekommen." Sandra unterbricht meinen Redeschwall. "So ausführlich wollte ich das gar nicht wissen." Claudia trennt uns für den Rest des Waldbadens.

Bis jetzt fühle ich mich noch nicht eins mit der Natur und als Teil eines größeren Zusammenhangs. Ich würde viel lieber heimlich die vier Frauen beobachten und mir Notizen machen. Vermutlich kann ich mir das Fühlen mit den Sinnen in meiner Welt des Verstandes kaum noch zugestehen. Ich versuche, ständig alles in einzelne Bausteine zu zerlegen, anstatt zu fühlen und mich auf dem Waldboden zu wälzen und beispielsweise tierische Laute von mir zu geben. Wir sind inzwischen fast zwei Stunden unterwegs, und ich freue mich, von Claudia den Freibrief zu bekommen, eine halbe Stunde alleine im Dickicht abzutauchen. Endlich kann ich mein Handy rausholen und in Ruhe meine Mails checken. Aber irgendwie merke ich, das dass jetzt doof ist, und versenke das Telefon wieder in meinem Rucksack. Meine Hände fühlen den Baumstamm unter mir. Ich atme ein paar Mal tief ein und aus, setze mich im Schneidersitz hin und schließe die Augen. Zunächst spüre ich noch meinen steifen Nacken, und die Gedanken rasen in meinem Kopf hin und her, aber irgendwann komme ich zur Ruhe. Ich höre die Geräusche des Waldes, rieche die Erde und versinke in einer wohltuenden Stille. Erschrocken schaue ich irgendwann auf die Uhr. Ich habe vollkommen die Zeit vergessen und muss zu den anderen zurück.

Aber etwas ist passiert. Ich fühle mich auf eine seltsame Art ruhig und gleichzeitig erfrischt. Ich umarme noch einmal voller Zärtlichkeit eine tote Birke, bevor ich mich durchs Unterholz schlage zurück zu den anderen. "Du leuchtest ja", sagt Claudia, als sie mich auf die Gruppe zukommen sieht. "Sandra hat sich verlaufen", sagt Nele mit besorgtem Blick und eine ihre Dreadlocks zwirbelnd. "Sie findet schon zu uns zurück", meint Claudia. "Wir fangen schon mal mit unserer Abschlusszeremonie an." Wir legen ein Mandala, mit allen möglichen Waldsachen, Stöckchen, Blüten, Blättern, Federn, Steinen und so weiter. "Denkt darüber nach, wofür ihr dankbar seid, wenn ihr etwas in das Mandala legt", sagt Claudia. Ich finde eine Feder, ein paar Tannenzapfen, zwei rote Blätter und ein paar Blüten, die ich behutsam beisteuern kann, während ich an meine Familie denke, für die ich dankbar bin. Meine Kinder, meinen Freund, meine Mutter und Brüder, meine Freunde. Ich danke auch meinem Geist und Verstand und meinem Herzen.

Schließlich kommt Sandra aus einem Gebüsch gehüpft und flüstert mir ins Ohr, das sie die Zeit genutzt habe, um ein bisschen zu joggen. Ich muss grinsen. Wir machen noch Musik mit Ästen und Steinen und summen ein bisschen dazu. Auf dem Rückweg sitzt Sandra neben mir in der S- Bahn. Sie ist in den drei Stunden nicht zur Ruhe gekommen und grübelt nach wie vor über ihre Jobentscheidung nach. Ich sage ihr, dass ich sie mir als Leiterin einer Berufsfachschule durchaus vorstellen kann. "Danke", sagt sie. "Lass uns mal die Nummern austauschen." Aber da sind wir schon am Ostkreuz, und Sandra springt mit ihren langen Beinen wie eine Gazelle aus dem Zug. Wir winken uns lächelnd zu.

Ich schaue aus dem Fenster und denke, wir müssen sie erhalten, wir müssen sie beschützen, wir sind eins mit der Natur, wir sind ein Teil von ihr. Einen kurzen Moment habe ich es gespürt, die wohltuende Erfahrung, sich als Teil eines größeren Zusammenhangs zu erfahren, die Verbindung zu sich selbst, aber auch zum großen Ganzen zu spüren. Ich greife in meine Hosentasche. Die Pilzschokolade ist geschmolzen. Ich lecke meine Finger ab. Hoffentlich hält dieser friedliche Zustand etwas an. Aber da schmeißt sich bereits eine Gruppe junger Mädchen in die Sitze und es dauert nicht lange und eine von ihnen fixiert mich und sagt. "Was guckst du, du Opfer?"






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