Der Schmerz war unerträglich. Normalerweise greife ich nicht zu Schmerzmitteln, aber
das hier war etwas anderes. Ich musste sofort handeln. Wenn ich versuchte tief ein und
auszuatmen hatte ich das Gefühl jemand sticht mir ein Messer zwischen die Rippen. Also rief ich Steve an. Steve ist unser Wunderheiler aus
dem Freundeskreis. Er ist Heilpraktiker und kennt sich mit beinahe allem aus was mit
dem Körper und der Seele zu tun hat. Unter einem schwankenden Boden, gebeugter als
der Glöckner von Notre Dame, öffnete ich ihm die Tür. „Oh je“, sagt er gleich, „du siehst
echt nicht gut aus!“ Ich versuchte durch mein schmerzverzerrtes Gesicht ein Lächeln zu
pressen, was mir nicht gelang. „Leg dich mal auf den Rücken.“ Ich legte mich schreiend
auf den Rücken und schaute Steve mit rot unterlaufenen, nach Hilfe flehenden Augen
an. Und schon glitten Steves Hände über meinen Körper. Wie ein Forscher auf
Entdeckungsreise erkundete Steve meinen Körper und fragte mich, mit seiner angenehm
sonoren Stimme, ganz nebenbei über die intimsten Sachen aus meinem Leben aus. Wie immer wehrte ich mich zunächst dagegen, aber es dauerte nicht lange und ich brach unter
Steves Händen in einem Heulkrampf zusammen. Meine Abwesenheit und Teilnahmslosigkeit dem Leben gegenüber suchte scheinbar nur einen Weg nach Draußen. Irgendetwas hatten Steves Hände mit meinem Nervenkostüm zu tun. Und wo Tränen sind ist Befreiung angesagt. Ich begann also wie ein Wasserfall zu reden; von meiner Beziehung, von der politischen Lage im Land, dem Klimawandel, meiner Mutter, meinen nicht gelebten Sehnsüchten, von all dem Leid, dem Elend und der Ungerechtigkeit auf der Welt. Ich hörte unter meiner Schnappatmung gar nicht mehr auf zu reden. Steve stoppte schließlich meinen Redefluss mit nur einem Satz, den er ziemlich trocken vorbrachte „Du hast ganz einfach ein
Problem damit dich fallen zu lassen.“ Ich wusste sofort was er meinte, und schon war ich
wieder ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen, das meiner alleinerziehenden Mutter zu
schaute wie sie sich „kaputt“ arbeitete, Tag für Tag, wie eine Maschine. Dieses ständige
sich Zusammenreißen, nichts für sich selber, sondern nur für die Anderen machen.
Dieses nervöse Rumflattern und sich nicht erlauben dem Strom des Nachdenkens oder
Reflektierens hinzugeben, weil man dann ein schlechtes Gewissen bekam, weil noch so
viel erledigt werden musste. Und vor allem, niemals, wirklich niemals die Kontrolle verlieren!
Das sog ich auf wie die Muttermilch, die ich nur kurze Zeit bekam, weil ich
meiner Mutter in meiner Gier nach ihrer Nähe die Brustwarzen zerbiss. Einiges aus der
Kindheit schleppen wir mit in unsere Gegenwart, wie einen schlecht sitzenden, irgendwie
angenähten Rucksack. Mir fällt es Beispielsweise schwer nach Hilfe zu fragen. Noch
heute meine ich wirklich alles alleine schaffen zu müssen. Was Beispielsweise bei der
Verwirklichung eines Films der komplette Wahnsinn ist, utopisch und völlig
unrealistisch. Auch in meiner Sexualität möchte ich die Kontrolle behalten. Wie schön es
wohl sein muss sich beim Sex in die Augen zu schauen und sich völlig dem Moment hin zu geben. Stattdessen ziehe ich meistens die Decke über meinen Kopf, verfolge ihr Muster und bin eher angespannt. Und so stellte ich unter der Massage von Steve fest, das ich im laufe der Jahre zu so etwas wie einem kompletten „Bestimmer“ geworden war. Dabei habe ich eine große Sehnsucht danach mich fallen zu lassen, mich in jemandes Armen auszuruhen. Das muss dann meine romantische Seelenseite sein, oder die Hoffnung die zuletzt stirbt. Wer weiß das schon. Ich schätze aber das wird nie passieren. Weil ich schlussendlich, wenn überhaupt, nur mir selber vertraue. Das ist natürlich schade und hat Auswirkungen auf mich und mein Umfeld. In einer Beziehung zu verschmelzen, wie man das aus Filmen kennt. „Sie blickten sich an, es war Liebe auf den ersten Blick. Seid dem fühlt sie sich in jedem Blick von ihm geborgen...“ Und so weiter, das wird mir wohl niemals passieren. Nein, Geborgenheit gab es in meiner stressigen Kindheit nicht. In meinem selbst gebauten Kontrollturm konnte und kann man sich weder Fehler noch Peinlichkeiten erlauben, was mich sicher etwas angespannt aussehen lässt. Wenn ich besoffen bin, ist es natürlich etwas anderes. Erst gestern hat mir Jemand erzählt wie amüsant ich betrunken bin, „ständig am giggeln, so süss!“ Im Vollrausch vergaß ich mich nicht selten, was zu peinlichen Momenten und zu kaum klärenden Gesprächen am nächsten Tag führte. Es kam schon mal vor das ich mit wildfremden Menschen rum knutsche, jegliche Moral oder ein Pflichtgefühl über Bord warf und mich ausschließlich dem Moment hin gab. Inzwischen bin ich alt geworden, zu alt und vermutlich das was ich niemals sein wollte, zu spießig für diese wunderbaren Exkurse. Und die Lösung für dieses Problem unter vielen anderen Problemen, um das ganze mal abzuschließen, wird sich vermutlich niemals finden. „Danke.“ Sage ich zu Steve „Das war echt gut und wie heißen diese extra starken Schmerzmittel noch mal?!“ Steve lächelt mich an, presst mich an sich, und schüttelt mich einmal durch, was mir so richtig unangenehm ist. Und weil es mir so richtig unangenehm ist und er weiß, das es mir so richtig unangenehm ist, macht er es gleich noch einmal.