"Es gibt nichts Verlässlicheres als eine Zuneigung, die aus sich selbst kommt, ohne das geringste Argument, ohne Gemeinsamkeit im Fühlen und Denken, gleichsam ohne Grund. "Das hatte Paul Valéry seinerzeit über die Freundschaft zu André Gide geschrieben.
Ich sitze an einem der unzähligen Wochenenden meines Lebens um vier Uhr morgens im Taxi Richtung Mitte und führe ein stilles Gespräch mit dem Teufel. "Ich bin lebensunfähig", sage ich zu mir selbst, " ein Loser mit ungesund viel Sehnsucht im Bauch." Sehnsucht die sich niemals erfüllen wird, weil ich gar nicht weiß, nach was und wem ich mich sehne. "Warum, frage ich mich, halte ich mich nicht an das Sprichwort "nihil admirari", also "nichts bewundern", "nichts bestaunen"? Warum finde ich meine Seelenruhe meine innere Balance nicht über die Philosophie? Eine funktionierende Paarbeziehung? Oder über Yoga, Kochen oder so? Warum zum Teufel fehlt mir so oft die Sinnhaftigkeit? Das ist nicht gut, es zehrt an meiner psychischen Substanz und limitiert meine Energiereserven und sorgt schlussendlich viel zu oft für schlechte Laune. Ich konzentriere mich auf einen großflächigen Fleck auf der Kopfstütze des Vordersitzes, während der Taxifahrer viel zu schnell durch die Stadt rast. Ich bin betrunken, und es ist viel zu spät. Was wollte ich nochmal herausfinden, draußen in der Stadt, unter einem viel zu vollen Mond, in dieser September Nacht? Habe ich eine Entdeckung gemacht? Gab es eine Erkenntnis? Warum liege ich nicht neben meinem Partner und den Kindern im Bett und schlafe? Was zum Teufel mache ich hier unter Alkoholeinfluss und hundemüde? Mir wird übel, wenn ich an die vielen Zigaretten und verschiedenen Getränke denke, die den Weg in meine Blutbahn gefunden haben und vermutlich in der nächsten Kurve schwellartig gegen die Fensterscheibe krachen. Aber was war das? Da bewegt sich jemand links neben mir. Sebastian ist da! Alles wird gut. Mein lieber Freund Sebastian ist da. Er scheint meine Gedanken zu lesen, öffnet ruhig das Fenster und legt ultra behutsam seinen rechten Arm um meine verkrampfte Schulter. " Anstatt mich "abzuschießen", flüstere ich heiser lallend und mit aufsteigender Wut in meinem hungrigen Bauch Sebastian zu, "hätte ich mich lieber um meine dysfunktionale Beziehung kümmern, meiner Kernfamilie ein hübsches Abendessen herrichten und das ganze in einen netten Filmabend münden lassen können. Warum musste ich stattdessen fluchtartig die Wohnung verlassen?" Sebastian lächelt mich an und sagt: "Kein schlechtes Gewissen, ja! Wir haben getanzt, gelacht und Spaß gehabt, das muss auch mal sein." "Aber warum muss ich so übertreiben?" "Das steht dir gut." "Was?", frage ich " Die Übertreibung? Haha", sage ich. "Ich hätte lieber meinen Balzac- "Verlorene Illusionen", ein ziemlich passender Titel- fertig lesen und dabei einen Ingwertee trinken sollen, um am nächsten Tag frisch und gut gelaunt mit meinen Kindern zu spielen, zum Sport zu gehen und den über die Jahre verlorenen gegangenen Kontakt zu meinem Partner zu suchen. Das fällt jetzt alles weg, weil es mir schlecht gehen wird und ich in den Seilen hängen werde. Der Exzess hat sich doch gar nicht gelohnt!", sage ich zu Sebastian. "Hat er sich für dich gelohnt?" , frage ich weiter. "Es gab zwar die ein oder andere Irritation, aber alles in allem war es ein schöner Abend. Schön auch, dass wir zusammen waren. So oft kommt das ja auch nicht mehr vor. " "Stimmt", sage ich. Dann schaue ich auf die Corona- Schutzscheibe aus Plastik vor mir- und ich denke plötzlich, ich will was mit Plastik machen. Kunst mit Plastik oder so. Sebastian hat es mal wieder geschafft, meine schweren Gedanken auszuhebeln und umzuleiten. Mein Kopf sinkt auf Sebastians Schulter. "Ich bin froh, dass es dich gibt", sage ich. "Ich bin auch froh, das es dich gibt", sagt er. "Wusstest du das Menschen, die ihre Freundschaften pflegen einen Überlebensvorteil haben und besser geschützt sind vor psychischen Erkrankungen?" "Ja, das kann ich mir vorstellen", sagt Sebastian. "Das heißt: Wir entgiften unseren Körper durch unsere Freundschaft, stabilisieren unser Immunsystem und kurbeln unseren Stoffwechsel an." "Super, dann lass uns noch einen kurzen "Absacker" trinken", sagen wir beinahe gleichzeitig und springen gut gelaunt aus dem Taxi.