Erinnerung an eine Traurigkeit
Als ich Georg Sand zum ersten Mal las, stand ich heulend am Fenster einer kleinen Pension irgendwo in Berlin- Mitte, in die ich kurz zuvor geflüchtet war. Am Fenster formten sich Regentropfen zu Miniaturflüssen. Ich starrte auf die nasse Straße unter mir. Nach acht gemeinsamen Jahren, einem gemeinsamen vierjährigen Kind, vielen Kämpfen und Diskussionen, die zu nichts führten, war mir die Puste ausgegangen. Ich konnte nicht mehr. Alle Versuche die Beziehung zu retten, waren gescheitert. Ich war ohne mein Kind, und ich wusste nicht , wie es weiter gehen sollte. Also began ich zu lesen. Ich legte mich ins Bett, das unter meinem Gewicht quietschte, stopfte meine eiskalten Füße unter eine Kolter, lehnte mich an die weiße Raufasertapete und atmete einige Male tief ein und aus. Was ich da las, war bereits 1833 erschienen, passte aber in meine Gegenwart. Eine Frau und ihre Sehnsucht nach Selbstbestimmung, jenseits von Mutterschaft und Beziehung. Das leidenschaftliche Streben nach Wissen und Erfahrungen. Die Unfähigkeit sich in ein bestimmtes Rollenbild zu fügen. Die Rebellion gegen die Moralvorstellungen der Gesellschaft, die die Autorin ergriffen hatte. Es berührte mich, war beruhigend und aufwühlend zugleich. Ich dachte über die vielen verschiedenen Rollen nach, die Frauen immer noch erfüllen müssen- die aufmerksame und treue Partnerin, die liebevolle und fürsorgliche Mutter. Und so weiter. Mir wurde klar, dass viele Frauen das gleiche Problem haben mussten wie ich. Ich fühlte mich nicht mehr alleine. Ich fühlte- zumindest für den Moment-, das es in Ordnung war, meine Beziehung in Frage zu stellen.
Also wer war diese Frau, für deren Prosa Marcel Proust eine Vorliebe hatte, die in Dostojewski "Entzücken und Verehrung" weckte? Von deren sanften und ruhigen Augen Heinrich Heine sprach. An dren Begräbnis Gustav Flaubert "weinte wie ein Kind". Über die Oskar Wilde sagte, von "allen Künstlerinnendieses Jahrhunderts" sei sie die selbstloseste gewesen.
Amantine Lucile Aurore Dupin wuchs zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Mit Vier Jahren verlor sie ihren Vater. Von ihrer Mutter ihr Leben lang abgeschoben ("Du bringst mich noch um! Der Kummer um dich wird mich noch töten!") wuchs sie bei ihrer Großmutter auf dem Landgut Nohan südlich von Paris auf. Von allen Bezugspersonen verlassen entwickelte sie in frühester Jugend ein unerschöpfliches, ein notwendiges Gefühlsleben. Zu jeder Vorsicht unfähig gab sie sich mit aller Kraft ihrer Phantasie und stundenlangen Illusionen hin, auf welche dann ein kindliches Erstaunen oder schmerzliches Bedauern folgte.
"... dieser Mangel eines Ziels; dieses ruhige Verfließen der Zeit; das Begegnen der Herden und Zugvögelscharen; das leise Geräusch des Wassers, das unter den Hufen der Pferde aufspritzt- alles das, die Ruhe und die Bewegung, jeder schöne Anblick und der Schlummer der Seele auf diesen einsamen Promenaden nahmen mich gefangen und unterbrachen den Strom meiner Gedanken und die Erinnerung meiner Traurigkeit. Ich wurde durch und durch Poet, aber nur Poet im Sinn und Gemüt, ohne es selbst zu bemerken und ohne es zu wissen."
Mit 13 Jahren wurde Aurore Dupin in ein Augustinerinnenkloster nahe Paris geschickt. Als sie achtzehn Jahre alt war, starb ihre Großmutter. Sie erbte das Landgut, kehrte zurück nach Nohant und lernte dort ihren ersten Mann kennen, der wesentlich älter war. Sie heiratete und bekam zwei Kinder. Aber schon nach drei Jahren wurde ihr das Eheleben zur Qual. Sie fühlte sich bevormundet und eingesperrt. Noch während ihrer Ehe hatte sie mehrere Affären. In Paris lernte sie den Schriftsteller Alfred Musset kennen, teilte sich wenig später mit eine Mansardenwohnung. Sie hatte viele weitere Liebhaber, doch immer standen ihre Kinder und ihr Beruf an erster Stelle.
Aus Aurore Dupin wurde Georg Sand, die Männerkleidung trug und von der Ungerechtigkeit der Unterscheidung zwischen Männern und Frauen schrieb. "Während ich im Garten von Ormesson über Montaigne nachdachte, erschien es mir oft als Demütigung, eine Frau zu sein, und ich muss gestehen, dass die moralische Inferiorität, die in allen philosophischen Büchern und sogar in der heiligen Schrift dem Weibe zugeschrieben wird, den Stolz meines jugendlichen Herzens empört hat. Aber das ist unwahr! rief ich aus; diese Unfähigkeit und diese Frivolität, die ihr uns vorwerft, ist eine Folge der schlechten Erziehung, zu welcher ihr uns verurteilt habt, und ihr werdet sehen, dass unsere Seelen gleich gebildet aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen sind."
Mit Mut und Ehrlichkeit kämpfte sie ihr Leben lang gegen das Prinzip der Autorität und einer heuchlerischen Moral. "(...) weder die alberne Putzsucht noch der Wunsch, allen Männern zu gefallen, beherschte meinen Sinn."
Georg Sand war eine Frau, die unabhängig und in Freiheit leben wollte und darum gegen viele Konventionen und Regeln verstieß. Sie schrieb über 180 Bücher, dazu mehr als 15.000 Briefe, während sie mit den berühmtesten Männern ihrer Zeit befreundet war: Musset, Chopin, Balzac, Dumas, Flaubert.
Selbst im Alter von 50 Jahren stellte sie fest: "Ich liebe die Träumerei, die Grübelei und die Arbeit, aber wenn ich zu einem bestimmten Punkt gekommen bin, werde ich traurig, denn meine Reflexionen sind dann schwarz, und wenn mir die Wirklichkeit in Folge dessen nur ihre düstere Seite zeigt, muss meine Seele erliegen oder die Freude muss mich aufsuchen."
Alles was sie tat, tat sie mit absoluter Überzeugung: "Die Mutterliebe, die Begeisterung für die Kunst, die Freundschaft, die Aufopferung, der Unwille: Und da sie nichts in ihrem Inneren mäßigen oder unterdrücken wollte und konnte, hatte ihr Leben einen übermäßigen, erschreckenden Gehalt und war voller Erregungen, die das Maß menschlicher Kraft weit überstiegen." (Georg Sand, Geschichte meines Lebens, Renate Wiggershaus (Hg.), Frankfurt a. M. 1978)
Georg Sand ist mir ein starkes Vorbild, ein Kompass in meiner schnellen, unübersichtlichen Gegenwart. Eine Säule in meinem Rücken - marmorn, entstanden durch Umwandlungen im Erdinnern durch Hitze und Druck, erhaben und unglaublich stabil.
Mit ruhigem Atem legte ich das Buch zur Seite. Meine Füße waren nicht mehr kalt, die Raufasertapete in der Pension nicht mehr ganz so hässlich und irgendwie hatte es die Sonne geschafft, sich durch die Wolken zu schieben. Nicht schlecht. Ich wusste nun, ich gebe nicht auf, ich bleibe mutig.